Jurij Kylevitsch Ajvaseda aus dem Clan Vella

Stephan Dudeck

Jurij Kylevitsch Ajvaseda aus dem Clan Vella

(Юрий Кылевич Айваседа из рода Вэлла)

 

Jurij Vella beschreibt sein Leben in einem seiner Bücher so:

„Auf der Straße von Varjogan nach Novoagansk gibt es eine Brücke. Wenn man von der Brücke vierhundert Meter nach Nordwesten geht, findet man alte bemooste aber hohe Baumstümpfe – hier befand sich der Wohnplatz des Nenzen Kyli Ajvaseda (Vella) und hier wurde ich am 12. März 1948 geboren …

Meine Großmutter Nengi verließ Nomadenzelt und Rentiere und kehrte zusammen mit ihren Kindern nach dem Tod ihres Mannes, Kaly Vella, zum Wohnlatz ihrer Eltern zurück, die in der Nähe des Flusses Vatjogan an den Ufern des Settej-Sees und des Flüsschens Chypitosty lebten. In den Zeiten des Internationalen Rotwerdens, auf der Suche nach dem Kolchos-Glück kamen sie mehr gelaufen als gefahren mit dem ganzen Ajvaseda-Clan zum Dorf Varjogan und schlachteten hier 1951 ihre letzte eigene Rentierkuh.

Ich besuchte wie viele Kinder des Nordens den Kindergarten (ich erinnere mich an den Tod Stalins) und das Internat (ich erinnere mich an den Flug des ersten Sputniks und Jurij Gagarins in den Weltraum).

Die besten Gesprächspartner meiner Jugend waren die Alten: die Brüder Vasilij und Anton Jeparkin und Jefim Ajpin. Auch als ich älter wurde, stützte ich mich immer auf Menschen der älteren Generation: Kuli, Auli und Ojsja Iusi und Andrej Kazamkin. Aber ich denke, dass zwei Menschen die Grundlagen meines Charakters gelegt haben: die Mutter meines Vaters, Großmutter Nengi, und der Vater meiner Mutter, Großvater Chopli. Großmutter Nengi war eine gute Erzählerin und Großvater Chopli ein begabter Handwerker.

Während ich als staatlicher Jäger arbeitete, kaute ich gleichzeitig das Programm des Maxim-Gorki-Insituts für Literatur durch und schloss 1988 mit der Diplomarbeit „Vesti iz stojbišča“ (Nachrichten vom Wohnplatz) mit „Auszeichnung“ ab.

Auch jetzt bin ich mit zwei Dingen gleichzeitig beschäftigt. Ich hüte Rentiere und zeichne mündliche Überlieferung – den Spiegel des gegenwärtigen kulturellen Niveaus meines Volkes – auf, damit jeder in diesen Spiegel schauen kann.

Im Jahr 2000 wurde ich in den Schriftstellerverband Russlands aufgenommen.

Mit meinen Rentieren lebe ich im Flussgebiet des Agan. Gemeldet bin ich in Varjogan. Unser Land wurde 1978-79 zusammen mit uns vom Surguter Rayon an den Nizhnevartovsker Rayon übertragen. Dann wurde 1984 das Land im Interesse der Erdölindustrie zurückgegeben, aber wir, die Bewohner dieses Landes blieben im Nizhnevartovskij Rayon gemeldet. So blieben wir auf dem Land unserer Vorfahren außerhalb der Gesetze hängen. Daraus ergeben sich Widersprüche, die zu Konflikten mit der Erdölindustrie führen.

In meinem Leben geschah alles Mögliche, ich gab fünf Bücher heraus, gründete zwei Museen, zwei Schulen, einen Gemeinderat, war einige Jahre bester Jäger des Jagdbetriebes, meldete mich seinerzeit als Freiwilliger nach Vietnam, diente aber wegen meiner Plattfüßigkeit als Bausoldat. Ich bin gegen jede Art von Kriegführung in Tschetschenien und widmete diesem Thema das Poem „Schwanenjagd“, das ich zusammen mit Tatjana Jurgenson schrieb. Wegen Verstoß gegen vier Gesetzesartikel wurde gegen mich aufgrund verleumderischer Anzeigen von Mitarbeitern der erdölfirma LUKoil ermittelt. Drei Verfahren habe ich gewonnen und der vierte Fall liegt zur Begutachtung beim Europäischen Gerichtshof. Ich bin 1992 abgebrannt und habe mich seitdem nicht aus der materiellen Armut aufgerappelt – meine Garderobe besteht zu 90% aus Geschenken von Freunden und meine Wohnungseinrichtung zu 50% aus ehemaligen Internatsmöbeln. Zurzeit arbeite ich an der Rekonstruktion des verbrannten Prosamanuskripts „Veterok s ozera“ (Windhauch vom See), bereitete dieses Buch für den nenzischen Studenten zum Druck vor, suche Sponsoren für seine Veröffentlichung und arbeite an einem Wörterbuch der Ortsnamen mit dem Arbeitstitel: „Reka Agan so pritokami“ (Der Fluss Agan und seine Nebenflüsse).

Jetzt hält das Schicksal für mich neue Herausforderungen bereit: seit Oktober liege ich in Krankenhäusern und habe drei Operationen hinter mir. Auch wenn die Sache sich zum Besseren wendet, gibt es noch Schwierigkeiten. Und wenn nicht die Unterstützung meiner Freunde wäre …

Unter Freunden fühle ich mich als der glücklichste Mensch unseres Planeten!

Jurij Vella (Ajvaseda) 12. März 2003 in der chirurgischen Abteilung des Krankenhauses der Stadt Nizhnevartovsk“

 

Biographie

Jurij Vella ist ein bekannter Vertreter der indigenen Völker Russlands. Mann kennt ihn nicht nur in Sibirien und Russland sondern durch seine Reisen nach Finnland, Ungarn, Estland und die USA. Er ist einem breiten Publikum im Westen durch eine Vielzahl von Dokumentarfilmen und Fernsehreportagen bekannt geworden.

Er ist Nenze und gehört zur Gruppe der so genannten Waldnenzen einem Volk eigener Sprache mit ungefähr 2000 Mitgliedern, die in der Taiga und Waldtundra an den Oberläufen der östlichen und nördlichen Nebenflüsse des mittleren Ob und an den Oberläufen der Flüsse Taz und Pur leben, die nach Norden in den Arktischen Ozean fließen. Traditionell leben sie von Jagd und Fischfang und halbnomadischer Rentierzucht. Die relativ kleinen Rentierherden (50-300 Tiere) ermöglichten neben Ernährung, Kleidung und Behausung auch den Transport zwischen den saisonalen Wohnplätzen und Rentierweiden. Die Kollektivisierung während der Sovjetzeit änderte die Lebensweise drastisch: die Herden wurden kollektivisiert, Jagd und Fischfang durch den Staat geregelt und kontrolliert und verstreut wohnende Familiengruppen in Dörfern angesiedelt. Schulbesuch und Armeedienst wurden wie für alle russischen Bürger obligatorisch. Seit den 1960er Jahren hat die industrielle Erschließung der Erdöllagerstätten auf ihrem Land das Leben der Nenzen noch einmal in vieler Hinsicht verändert. Hunderttausende Wanderarbeiter und neuer Siedler kamen in das Gebiet, bauten eine Eisenbahnstrecke und gründeten Städte und Siedlungen.

Das ist der Kontext in dem Jurij Vella lebt. Sein familiärer Hintergrund ist ein sein einfacher. Sein Vater war ein Rentierhirte, der starb, als Jurij vier Jahre alt war. Seine sehr junge Mutter (sie war bei seiner Geburt erst 17 Jahre alt) heiratete einen Chanten und Jurij besuchte die Internatsschule in Varjogan, wo er die meiste Zeit bei seiner Großmutter väterlicherseits verbrachte, die mit der nenzischen Tradition eng vertraut war. Er beendete die weiterführende Schule nicht, sondern absolvierte seinen Wehrdienst als Bausoldat in Sibirien und dem Fernen Osten und kehrte in sein Dorf zurück, um ein ganz gewöhnliches Leben zu führen. Er heiratete mit 19 Jahren eine Chantin aus dem Nachbardorf, mit der er vier Töchter hat. Er arbeitet in verschiedenen Berufen, darunter als Bürgermeister des Dorfes aus dem seine Frau stammte, als Jäger des Jagdbetriebes in Varjogan, in der Fischannahmestelle, als Fischer, Lagerverwalter, Kassierer, Holzfäller, Ofenbauer, in der Pelztierfarm und als Erzieher im Schulinternat.

Ein Jahr nach dem Armeedienst hörte er auf Alkohol zu trinken, womit er unter den Nenzen und Chanten eine relativ seltene Ausnahme bildet. Er war bereits über 35 als er sich auf Anraten eines Freundes am Maxim-Gorki-Institut für Literatur in Moskau bewarb, wo er auch angenommen wurde, nachdem er das Abitur nachgeholt hatte. Weil er bereits Gedichte geschrieben und veröffentlicht hatte, wählte er die Abteilung für Poesie und publizierte 1990 nach Beendigung des Studiums sein erstes Buch. Während des Fernstudiums verbrachte er nur einige Wochen im Jahr in Moskau und die übrige Zeit als Jäger in Sibirien.

Juri Vella gründete und leitete das ethnografische Freilichtmuseum im Dorf Varjogan. Er war der erste Präsident des Verbandes der privaten Rentierzüchter des Khanty-Mansiiskii autonomen Gebietes, ist Mitglied der Assoziation der Ureinwohner des Chanty-Mansijskij Avtonomny Okrug „Rettung Jugras“ und seit 2000 Mitglied des Schriftstellerverbandes Russlands.

Schon in den 80er Jahren kamen ihm Zweifel am existierenden politischen System, die sich mit der Zeit immer mehr verstärkten, bis ihm bewusst wurde, dass das sowjetische System seinem Volk nicht die lichte Zukunft gebracht hatte. Die Bemühungen der Ureinwohner am Beginn der 90er Jahre so genanntes Familienland in vererbbarem Besitz zu erhalten, kann als Folge des Auftauchens neuer Normen traditioneller Lebensweise angesehen werden. Unter den Bedingungen verschärfter Konkurrenz über Ressourcen mit den Industrieunternehmen konnten die Ureinwohner nur so ihre Kultur erhalten und entwickeln. Diese Ideologie drückte Jurii Vella in der Formel aus: „Land – Rentierflechte – Rentier – Rentierzüchter – Enkel des Rentierzüchters: eine empfindliche aber einheitliche Kette.“

1990 erfüllte er sich einen Traum: er kaufte 10 Rentiere und zog mit seiner Frau aus Varjogan, wo er immer noch ein Haus hat, in die Taiga, auf das Land, wo seine Vorfahren väterlicherseits siedelten. Seine Enkel sollten so leben lernen, wie ihre Vorfahren, und so kam es, dass die Rentiere für ihn wichtiger wurden als die Schriftstellerei. Er hatte zu diesem Zeitpunkt kaum Erfahrung mit der Rentierzucht und wusste, dass die Erdölfirmen bereits Lagerstätten auf diesem Land und in der Umgebung erkundet hatten. Erdölförderung und Rentierzucht sind aber nicht gleichberechtigte Teilnehmer im Wettbewerb um den Zugang zu Land und die enge Nachbarschaft ist oft mit Konflikten verbunden. Jurij Vella versuchte seine Rechte gegen eine der größten Erdölfirmen, LUKOIL, zu verteidigen, konnte aber nicht verhindern, dass diese Firma Förderrechte auf seinem Land erwarb. Die drei verschiedenen Wohnplätze für Frühling Sommer/Herbst und Winter und die dazugehörigen Weideplätze musste er mit kilometerlangen Zäunen schützen, um zu verhindern, dass die Rentiere auf den Erdölfeldern umkommen.

Jurij berichtet: „Im März 1996 haben ich und meine Frau auf dem heiligen Platz am See Numto während einer Opferzeremonie im Beisein vieler Menschen ein zu diesem Zweck extra gekauftes Rentier dem Präsidenten Russlands geweiht … Ein Rentier ist ein empfindliches Wesen. Ich werde den Schaden nicht ersetzen, wenn ein Wilderer das Rentier tötet oder wenn es von einem Hund gerissen wird, der vom Erdölfeld gelaufen kommt. Und schließlich, wenn mein Weideland zum Erdölfeld wird und ich dort nicht mehr meine Rentiere weiden kann, ersetze ich dem Präsidenten den Schaden nicht, da ich an ihm keine Schuld trage. Eher ist es die Schuld des Präsidenten selbst, der die Möglichkeit dazu besitzt und auch nutzen sollte, in seinem Land günstige Lebensbedingungen zu schaffen – für unterschiedliche Menschen und für seine Rentiere.“

Wie soll der Konflikt gelöst werden, der entsteht, wenn Land sowohl als Rentierweide als auch für die Erdölförderung beansprucht wird? Die Erdölindustrie kann eventuell zeitlich befristete Rechte erhalten und das Land später an die Ureinwohner zurückgeben. So glaubten die Ältesten der Chanten und Nenzen, aber so geschah es nicht. Es kam es zum Konflikt. Juri Vella schrieb einen offenen Brief an die Regierung und die Verantwortlichen von LUKOIL. Dann beschloss er, sich an die örtlichen Behörden zu wenden, um exakte Informationen über die Rechte an dem Land zu bekommen, auf dem seine Familie lebt. Er wollte auch wissen, ob die Naturschutzgesetze eingehalten wurden, als das Land der Erdölindustrie überlassen wurde. Das einzige Ergebnis war eine recht grobe formelle Antwort. Juri Vella entschied sich, vor Gericht zu ziehen. Der Richter des Landesgerichts wies jedoch seine Klage gegen den Gouverneur ab. Er stellte einen zweiten Antrag auf Information und nach einem Workshop über die Rechte von Rentierzüchtern schrieben auch seine Nachbarn solche Anträge. Die Rentierzüchter erhielten Hilfe von der Moskauer Anwaltsorganisation „Rodnik“ (Quelle).

Ein Gerichtsprozess oder sogar nur die Klage vor Gericht kann indirekte und direkte Folgen haben. Zum Beispiel reichte Juri Vella eine Klage ein, nachdem ihm die beantragten Informationen verweigert worden waren. Das Gericht wies die Klage ab, aber als Juri Vella wieder einen Antrag stellte, bekam er eine 50-seitige Dokumentation, die er über das Gericht im ersten Fall erstreiten wollte.

LUKOIL zog seine eigenen Schlussfolgerungen. Normalerweise schließen die traditionellen Bewohner des Landes Verträge mit der Erdölfirma, die Erdöl auf ihrem Land fördert. Im Surgutskij Rayon entwickelte sich ein Konflikt zwischen den Partnern eines solchen Vertrages und LUKOIL kündigte 1998 die Verträge mit fünf Familien einseitig auf, auch wenn nach dem Gesetz nur ein Gericht die Verträge auflösen kann. Dieser Konflikt wurde nicht gelöst.

Im September 2001 zerstörte die Firma „LUKOIL – Westsibirien“ eine Brücke auf der einzigen Straße, die den Nomadenwohnplatz mit dem Dorf Varjogan verbindet, wo sich die Krankenstation, die Schule, die Post und Geschäfte befinden. Juri Vella versuchte die illegalen Aktivitäten der Ölarbeiter zu stoppen, indem er die Räder eines Baggers mit der Axt zerstörte um so das corpus delicti am Ort des Geschehens festzuhalten. Daraufhin wurde ein Gerichtsverfahren gegen ihn eingeleitet. Er konnte die Prozesse gegen sich zwar gewinnen, die Brücke wurde aber im Frühjahr 2003 wieder zerstört. Im Augenblick führt eine improvisierte selbstgebaute Brücke über den Fluss, die Juri Vella mit der Außenwelt verbindet.

Er war immer wieder Initiator von Protesten der Urbevölkerung gegen die rücksichtslose Vernichtung von Rentierweiden durch die Erdölindustrie. 1990 wurde eine Straße durch das Aufstellen des Nomadenzeltes blockiert, später ein Nomadenzelt direkt vor dem Gebäude der Administration in Radushnyj, dem Rajonzentrum, und 1999 in der Gebietshauptstadt Chanty-Mansijsk aufgestellt, um die Öffentlichkeit von den Forderungen der Indigenen zu informieren.

1998 bekam Juri Vella den Preis des „Open Society“ Instituts der Soros-Stiftung „Für Heldentum“.

Jurij Vellas Pläne sind in die Zukunft gerichtet. Er denkt an seine Enkelkinder und möchte ihnen die Wahl ermöglichen, die seinen Kindern und seiner eigenen Generation verwehrt blieb: wie all die jugendlichen Ureinwohner haben auch seine Töchter die Schule ohne großen Gewinn besucht und die traditionellen Fähigkeiten und Kenntnisse verloren, ohne sich gleichwertige neue anzueignen. Jurij Vella, der das Internatssystem für die Kinder der Rentierhirten ablehnt, hat deshalb 1997 eine kleine Schule auf seinem Land eröffnet, damit seine Enkelkinder das Leben in der Taiga nicht verlernen. Anknüpfend an die Idee der ersten Nomadenschulen im sovjetischen Norden, dem sogenannten “roten Tschum”, das die Kinder und Erwachsenen auf den Wohnplätzen unterrichtete, stellte er auf seinem Wohnplatz Lehrer an, die seine Enkel unterrichten. In den Wintermonaten lernten die Kinder soviel, das sie nach einem Test in der Internatsschule in die nächste Klasse versetzt wurden. Obwohl die Kinder den normalen russischen Lehrplan absolvieren, werden sie nicht ihrer traditionellen Umgebung entfremdet. Der Rentierzüchter Juri Vella ist der Meinung, die Kinder der Rentierhirten würden durch das Rentierjunge erzogen, das wiederum durch sie gezähmt wird.

Nach sieben Jahren, im Herbst 2004, wurde die Schule nicht wieder eröffnet, weil die Verwaltung entschied, der Unterhalt der Schule würde sich nicht lohnen. Die Kinder, die vorher hier unterrichtet wurden, mussten nach Varjogan ins Internat umziehen. Es wurden vor allem jüngere Kinder in der Schule auf dem Nomadenwohnplatz unterrichtet, es waren nicht viele, aber die Ausgaben für die Schule waren auch nicht hoch. Manchmal wurden sogar die Materialkosten eingespart. Die Hauptausgaben bestanden im Gehalt von zwei Lehrern, für das Benzin für einen Elektrogenerator im Winter und der Kauf von Inventar. Die Verwaltung des Nizhenvartovskij rajon entschied, dass eine weitere Finanzierung nicht gerechtfertigt sei. Juri Vella erzählte: „Die Schule ist geschlossen. Scheinbar, weil es nicht zweckmäßig sei auf einem Nomadenwohnplatz eine Schule zu unterhalten und zweitens, weil das teuer für den Staat sei. Unter den Bedingungen des Wohnplatzes könne man keine höheren Klassen unterrichten, sondern nur untere. Davon sind die Beamten der Bildung überzeugt.“ Ein Schuljahr später wurde die Schule aufgrund der Proteste, die der Schließung folgten wieder geöffnet. Im Augenblick werden dort eine Handvoll Kinder unterrichtet, einen sicheren Status im Bildungsprogramm der Region hat die Schule jedoch immer noch nicht.

Im August 1996 organisierte Juri Vella auf dem alten Postweg auf dem Fluss Agan zwischen den Dörfern Varjogan und Agan mit ortskundigen Dorfbewohnern eine Expedition, um das mit den Orten am Fluss verbundene traditionelle Wissen aufzuzeichnen und wieder zu beleben. Seitdem sammelt er die Ortsnamen der Region für ein Lexikon, um die Zugehörigkeit des Landes zu seinem Volk zu dokumentieren.

Jurij ist aus einem sehr praktischen Grund an öffentlicher Aufmerksamkeit interessiert: er sieht die Notwendigkeit eines Schutzes vor den Vertretern der Erdölindustrie. Seine internationalen Verbindungen sind wirklich ein physischer Schutz: die Ölindustrie ist solange nicht an seinem Verschwinden interessiert, solange er als Opfer mehr Ärger bereiten würde, als als ein lebendiger Rentierzüchter.

Jurij Vella gehört zu den bekanntesten indigenen literarischen Stimmen und politischen Aktivisten der Urbevölkerung Westsibiriens. Seine Botschaft ist sowohl Widerstand als auch Appell. Er hinterfragt ohne Beschönigungen die Gegenwart und Vergangenheit. Seine Themen reichen von politischer Polemik bis zu Liebeslyrik. Als Intellektueller ist er in das soziale Leben seines Volkes eingebunden für dessen Zukunft er sich verantwortlich fühlt.

 

Literatur von Juri Vella:

Juri Vella schreibt Gedichte und Prosa auf Russisch und Nenzisch. Seine Gedichte wurden ins Ungarische, Französische, Englische und Estnische übersetzt.

Sein erstes Gedicht „Pervyi inei“ (Erster Rauhreif) wurde 1979 in der Zeitung des Kreises „Leninskaya pravda“ (Leninsche Wahrheit) gedruckt. Seine Gedichte erschienen im Wochenblatt „Literaturnaia Rossiia“ (Literarisches Russland); in den Journalen „Mir Severa“ (Welt des Nordens), „Neva“, „Poliarnaia zvezda“ (Polarstern), „Severnye prostory“ (Nördliche Weiten), „Sibirskie ogni“ (Sibirische Feuer), Sibirskoe bogatstvo“ (Sibirischer Reichtum), Sterkh“ (Kranich), „Ural“, „Iugra“; in den Sammelbänden und Almanachen „Blizok Krainii Sever“ (Nah ist der äußerste Norden) (1982), „Na semi vetrakh“ (Auf den sieben Winden) (1984), „Okhotnich’i prostory“ (Die Weidmännische Weiten) (1985), „Vremena, v kotorye veriu“ (Zeiten an die ich glaube) (1989), „Znamenie“ (Zeichen) (1993), „Severnye rodniki“ (Nördliche Quellen) (1995), „Zori Samotlora“ (Die Morgenröte Samotlors) (1997), „Kedrovaia griva“ (Die Zirbelkiefernhöhe) (1998), „Poslednee prishestvie“ ” (Die letzte Wiederkunft) (1998), „Erintur“ (1998; 2000); und in den Chrestomatien „Literatura Tiumenskogo kraia. Kn. 1,3“ (Literatur des Tjumensker Kreises) (1996), „Lukomor’e“ (Meeresbogen) (1997), Strana bez granits“ (Land ohne Grenzen) (1998).

Publikationen in Zeitschriften (Auswahl):

Ю. Вэлла, Облако в нефти; стихотжорения. Югра 2, 1991, 48-49.

Ю. Вэлла, Песня ненецкого малчика, Только в сердце песня. In: Megyek élö testvéremhez. Menen elävän veljeni luo. Иду к живому брату. Finnugor költök antológiája S.a., s.l., Budapest 1993, 30-33.

Ю. Вэлла, Белые крики; Стихотворение. Югра 6, 1993, 38.

Ю. Вэлла, Мая боль; Стихотворение. Югра 11, 1993, 11.

Ю. Вэлла, Это нужно живым. Новости Радужного 27.01.1994.

Ю. Вэлла, Вспониная песни бабушки. Стерх 1 (5), 1994, 53-54.

Ю. Вэлла, Мы не исчезнем с лица земли. Северные Просторы (3-4) 1996, 16-18, 21, 25-28.

 

Gedichtbände:

Ю. Вэлла, Вести из стойбища: Стихи. (Nachrichten vom Wohnplatz) Свердловск, Средне/Уральское книжное издательство 1991.

Ю. Вэлла, Вести из стойбища: книга вторая. (Nachrichten vom Wohnplatz 2. Buch) Радужный 1991.

Ю. Вэлла, Белые крики: книга о вечном. (Weiße Schreie: Buch über das Ewige) Сургут: Северный Дом 1996.

Ю. Вэлла, Триптихи. Triptiques. Ханты-Мансийск: Полиграфист 2001.

Ю. Вэлла, О вечном. Излучинск 2001.

Ю. Вэлла/ T. Юргенсон, Охота на лебедей (диалог). Ханты-Мансийск 2002.

Ю. Вэлла, Поговори со мной. (Sprich mit mir) Ханты-Мансийск: Полиграфист 2004.

 

Andere Bücher:

Ю. Вэлла/ О. Корниенко. Путем хозяйки Агана – По материалам фольклорно-этнографической экспедиции «Почтовой рейс». Нижневартовск 1999.

Ю. Вэлла (Изд.). Загадки от Татвы. Излучинск 2002.

 

Literatur über Jurij Vella (Auswahl):

Vella J. K. Üzenetek szálláshelyemröl (fordította: Buda Ferenc). In: FoRRáS 5, 1990, 11-31.

Vella J. K. Nyenyec kisfiú dala. In: Nagy Katalin, Hét határon hallik húros daru hangja. Morzsák az uráli nyehrcsaládhoz tartozó népek irodalmából és életéböl. Tansegédlet. famulus, Budapest 1994, 260-61.

L. Niglas/ E. Toulouze, Yuri Vella’s Worldview as a Tool for Survival: What Filming Reveals. Pro Ethnologia 17, 2004, 95-114.

E. Toulouze, Youri Vella ou la construction de l’utopie. In: Sibérie: paroles et mémoires. Slovo 28/29. Paris: Publications Langues ‘O, 2003, 193-210.

Ю. Вэлла, Стойбище Юрия Айваседы в осаде. Живая Арктика 13, 2003, 122-123

Jurij Vella, Interview mit Stephan Dudeck vom 14. März 1995 auf dem Winterwohnplatz Tjujtjaha (Manuskript der deutschen Übersetzung)