Der kleine Ystschetka-Schamane und andere

Der kleine Ystschetka-Schamane und andere

Übersetzung Stephan Dudeck

1

Als auf unserem Fluss ein Dampfschiff erschien, da drängten wir Kinder uns als die Ersten am Abhang des sandigen Steilufers, als sich die Erwachsenen, unsere Vä­ter und Großväter, alle noch gemächlich zwischen den Häusern und Nomadenzelten bewegten, ebenso wie ein Fluss im Frühjahr, und die Nachricht in alle Ecken unserer Siedlung verbreiteten: “Auf dem Fluss schwimmt ein feuer­atmendes Boot!”

Versteckt unter Kleidern und Fellen am Kopfende sei­nes Bettes verließ nur Ystschetka nicht sein Zelt aus Bir­kenrinde sondern flüsterte voller Schrecken: “Es ist für mich, für meine Seele ist das feueratmende Boot gekom­men, der gestrige Ton meiner Trommel hat es hergeführt”.

Bald standen alle Bewohner der Siedlung am Ufer, außer dem kleinen Ystschetka – Schamanen.

Beißender Rauch, schwarz und dick, kroch aus dem Schornstein der Schiffs, hing schrecklich drohend über der Siedlung und streckte seine wollige Tatze gerade nach dem Zelt Ystschetkas aus.

“Seht, seht! – wurden die Alten munter und es erfüllte sie Schadenfreude aber auch Besorgnis. – Jetzt zieht der Feuergeist alles Geschwätz aus dem Zelt heraus!”

Jeder der am Ufer stand stellte sich vor, dass dieser Rauch die göttliche Strafe für die Lügen sei, mit denen Ystschetka seine Verwandten ausgiebig bedacht hatte, und dass er ihn ohne Erbarmen dem Willen des Schicksals überantworte.

Mir schien, dass der Schamane, verborgen hinter der Wand des Zeltes, jetzt grimmig mit dem Feuergeist kämpfe, und zwar so, dass er bisher noch nicht aus seinem Unterschlupf herausgezogen worden war. Ich sah in ihm mit der Einbildungskraft eines Jungen einen gewandten Kämpfer. So wie auch alle Bewohner unserer Siedlung mochte ich Ystschetka nicht, und brachte seinen Worten und Verhalten Misstrauen entgegen, hatte aber in der ge­heimsten Ecke meines Innern Mitleid mit ihm.

Das Schiff machte jedoch am Ufer fest, es schaukelte auf den eigenen Wellen; ein rußgeschwärzter Mensch mit dem strahlend weißen Lächeln ebenmäßiger Zähne sprang aus ihm heraus, legte ein dickes Tau um einen Holzklotz, stemmte die Arme in die Hüften, winkte jeman­dem lebhaft mit der Hand, und das geheimnisvolle Tier, das eben noch Funken, Rauch und Gebrüll ausgestoßen hatte verstummte fast verlegen. Aus dem Schornstein be­freite sich ein letzter, schon nicht mehr ganz so schwarzer Ring von Rauch, flog über die Siedlung und verschwand im Birkenrindenzelt Ystschetkas. Ich stellte mir vor, wie der unglückliche Feuergeist den Kampf mit dem Men­schen nicht bestanden hatte und bei dem rauen Zusam­menstoß umgekommen war. In meinem Herzen war Stolz auf meinen Verwandten, aber das Mitleid mit dem ge­heimnisvollen Tier war doch größer. . .

 

2

Einst fuhren auf dem Fluß in einem Kanu zwei Alte, ein Chante und ein Nenze. Während sie fuhren, erzählten sie einander Märchen. Der Nenze besaß den chantischen Namen Jawunko, daß heißt, dass er nicht nur bei seinen Verwandten bekannt war, sondern auch von den Chanten geachtet wurde. Und aus eben diesem Grund hatte auch der alte Chante den nenzischen Namen Kapitjaj. Sie wa­ren nicht nur Freunde, nein, sie waren auch zwei Große Erzähler. So konnten sie nicht nur die einfachen Zuhörer in ihren Bann ziehen, sondern auch Menschen wie sie selbst bezaubern, Meistererzähler.

An einer Stelle hat der Fluss eine große zweischlaufige Schlinge gebildet. Wenn man die Schlinge entlangfährt, verliert man einen halben Tag. Es gibt aber an ihrem An­fang eine Landenge, insgesamt zwanzig Schritte breit, man zieht das Boot hinüber und fährt weiter.

So fuhren auch Jawunko und Kapitjaj und erzählten einander Märchen. Sie fuhren bis zur Enge, zogen das Kanu hinüber und paddelten weiter. Aber sie fuhren nicht den Fluss hinunter, wie es nötig gewesen wäre, sondern wendeten sich den Fluss hinauf, gegen die Strömung, in die Flusswindung hinein. Sie fuhren und erzählten sich Mär­chen. Nach einem halben Tag kamen sie wieder an die Landenge, zogen das Boot hinüber und fuhren wieder in die Flussschlinge hinein. Und sie wurden so sehr von den Märchen mitgerissen, dass sie erst eine Nacht, dann noch eine Nacht an dieser großen Flusswindung verbrach­ten. Auch abends am Feuer erzählten sie einander zum Ver­gnügen Märchen. Und so zogen sie das Boot während dreier Tage sieben mal über ein und dieselbe Landenge. Das ist die Macht der wirklichen Kunst, die Kraft der Meisterschaft eines wahren Erzählers – sie vergaßen darüber alles auf der Welt . . .

Nebenbei bemerkt sind bis zum heutigen Tag im Volk zwei Märchen dieser Alten lebendig. Erzählt man am Abend eines von beiden, erhebt sich am nächsten Morgen ein Schneesturm, oder es kommt Matschwetter. Das zweite Märchen ruft klares, sonniges Wetter hervor. Ich selbst habe es in meinem Leben einige mal benutzt, um auf der Jagd das nötige Wetter herbeizurufen. Aber es ist so, zu meinen Worten, meinen Erzählungen steht es in keiner Beziehung . . .

Jetzt wird die Windung an dieser doppelköpfigen Flussschlinge von den Leuten Siebenköpfig gewundene Flusswindung genannt . . .

 

3

Es kam eines Winters ein Bevollmächtigter aus Surgut auf unseren Wohnplatz. Und zu der selben Zeit fuhr zu seinem Unglück auch Kapitjaj auf seinem Rentierschlitten her – Pelze abzuliefern und im Laden Mehl und Tabak zu kaufen. Da zeigte einer (es fand sich ein solcher) mit dem Finger auf den Alten und flüsterte dem Volkswächter zu, dass Kapitjaj ein Schamane sei. Der Bevollmächtigte legte seine Hand auf die Schulter des Alten und sagte:

– Mach dich fertig Schamane, du fährst mit mir ins NKWD.

Der Alte verstand nicht, lächelte freundlich und nickte mit dem Kopf:

– Petscha! Petscha!.. – das heißt auf Chantisch “Guten Tag!”.

Der mit dem Finger gezeigt hatte sprang hinzu und übersetzte die Worte des Bevollmächtigten. Der Alte senkte düster den Kopf, doch zu widersprechen war in die­sem Moment nicht angebracht. Er bat nur darum, an den Rand des Ortes gehen zu dürfen, um die Rentiere auszu­spannen und zu den Kindern nach Hause zu führen.

Außerhalb des Wohnplatzes im Kiefernwald befreite Kapitjaj die Rentiere aus dem Geschirr, jagte sie auf den Weg zum heimatlichen Wohnplatz, er selbst setzte sich auf den jetzt nutzlosen Schlitten, holte aus der Strohunterlage die alte Büchse hervor (nicht bei jedem einfachen Rentier­züchter fand sich in der Familie ein überzähliges Rentier­fell zur Unterlage und eine gute Schrotbüchse), sprach ein Gebet, holte Atem und erschoss sich.

Viele Male ist der erste Schnee auf mein Land gefal­len, viele Male sind die Zugvögelschwärme mit traurigen Abschiedsrufen über die Siebenfache Flusswindung und über den Kiefernwald geflogen, der jetzt Kapitjaj-Wald genannt wird…

 

 


[1] Ich weiß nicht genau was das Amt dieser Menschen war, aber mein Großvater nannte sie Bevollmächtigte.

[2] Gott, das ist auf Chantisch Torum. Doch Torum besitzt noch weitere Bedeutungen: Himmel, Lebenssituation, Wetter und Natur. In seiner Anrede an die Geister auf den Heiligen Plätzen legt der Jäger mehr den Akzent auf die beiden letzten Bedeutungen.