Einführung
Übersetzung Stephan Dudeck
Bei uns, den Waldnenzen, wurden viele Geschichten – Märchen, Klagen, Lieder gesungen, das geschah in einer künstlerischen Sprache, auf eine volkstümliche Melodie oder in Form einer gesungenen Beschwörung (zum Beispiel im Gespräch mit den Geisteridolen).
Die Alltagssprache jedoch, die im täglichen Leben gebraucht wird ist karg, besitzt weder Farbe noch Geschmack oder Duft, es gibt kein Heiß oder Kalt. In der Alltagssprache ist es unmöglich Märchen zu erzählen oder Lieder zu singen, und das gewöhnliche Gespräch über Brennholz, über das Essen oder Geld entweiht die künstlerische Sprache.
Die an der Grenze zweier Bezirke wohnenden Kinder der Waldnenzen wohnen im Schulinternat zusammen mit chantischen Kindern, aber sie haben russischsprachige Erzieher und Lehrer. Deshalb benutzt meine Generation und besonders die, die jetzt zur Schule geht von Kindheit an zwei oder sogar drei Sprachen, Nenzisch, Chantisch und Russisch. So sind die Lebensumstände. So verloren wir unsere metaphorische Sprache der Märchen und Lieder. Wenn wir noch, Gott sei Dank unsere Sprache sprechen, so kennen wir leider nur die kärgliche, alltägliche.
Natürlich sind hauptsächlich wir selbst die Schuldigen. Aber es gibt auch einen Teil der nicht in unserer Schuld liegt.
Ihren Anteil daran haben die Lehrer der Internatsschulen des Nordens, die Ihre Schüler so umerzogen, dass schließlich nach der Schule viele von ihnen gezwungen waren, von neuem ihre Muttersprache und Kultur zu erlernen, weil sie von ihrem Volk getrennt wurden. Übrigens hat darüber schon meine Stammesgenossin Anna Nerkagi in der Geschichte “Aniko aus dem Sippe Nogo” berichtet.
Und ihrerseits haben darauf im Besonderen die Mitarbeiter der Organe des Innern eingewirkt. Es gab eine Zeit, da reisten Bevollmächtigte mit Revolver im ledernen Halfter durch Taiga und Tundra auf der Suche nach Volksfeinden, nach Schamanen. Allein aus unserem Wohnplatz wurden fünfzehn Schamanen abtransportiert, von denen nur ein einziger die Heimat wieder sah. Vor einiger Zeit sprach ich mit meinem Großvater über diese Dinge. Sicher, die Erzählungen über diese Menschen waren nicht eindeutig, aber ich verstand, dass viele von ihnen einfach begabte Erzähler, Volkssänger und Vermittler der wirklichen Volkskunst waren.
Räumte ein Mensch das Fest- und Gesangshaus auf – klagte man ihn des Schamanismus an. Versammelten sich die Menschen um für sich selbst oder für ihre Kinder ein Bärenfest aufzuführen – den Mythos des Volkes über den Ursprung allen Lebens auf der Erde, den Mythos über die Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt, den Mythos, aus mehreren Szenen bestehend, in denen der Mensch den Kampf mit den Göttern aufnimmt und in denen er den betrügerischen, korrupten Schamanen verspottet – und diese Menschen wurden des Schamanismus angeklagt. Kam der Jäger in den heiligen Wald um mit den Geistern zu reden, um seine Gedanken vor der Jagt zu reinigen, um sich vor Gott, vor der Natur für das Erbeuten eines Tieres, für die Vernichtung eines Teils der Natur zu rechtfertigen – so wurde er des Schamanismus angeklagt. Unter schweren klimatischen und Lebensbedingungen suchte der Mensch für sich Rückhalt und Beistand – man klagte ihn des Schamanismus an . . .
Das Volk verlor seine besten Erzähler und schwieg. Die einen hatten Angst, die anderen waren zu einer Aufführung nicht fähig und wenn sie es waren, dann nur als Zuhörer, die dritten, die Jugend, nimmt den neuen Lebensstrom in sich auf, sie die Jugend hat keine Zeit sich Gedanken zu machen wohin dieser Strom sie trägt, die Jungen stürzen sich ins Leben. Und wenn es so ist, es muss so sein, und es ist daran auch nichts Besonderes. Nur verstummen die Bärenfeste, Lieder, Gebete und Märchen, – nie oder nur noch selten erklang die künstlerische Sprache.
Doch Märchen hörten wir alle früher. Meine Großmutter erfand dafür eine neue Methode. Zuerst sang sie einen Teil des Märchens auf traditionelle Weise, und dann wiederholte sie, damit wir verstehen worum es ging, den Inhalt in der Alltagssprache. Danach sang sie von neuem und übersetzte wiederum in die gewöhnliche Sprache, wie für Fremde. Dieses Nacherzählen nannte sie “zu Fuß gehende Rede”.
Ich erfasste die Märchen und Lieder meiner Großmutter nur in dieser Form und sicherlich ist deshalb meine Kunst eine Mischung aus Prosa und Gedichten. Nüchterne Prosastücke erläutern emotionalere poetische Zeilen, wie man ergänzen könnte. Deshalb sicherlich ist die Sprache meines Schaffens eine nenzisch-chantisch-russische in nenzisch-chantisch-russischer Form.
Aber welches auch die Sprache, was auch die Form sei in der mein Held sich äußert, die Auffassung von Liebe, von Gut und Böse, von Gerechtigkeit, von Nostalgie, von Verrat, die komplizierten Beziehungen der Menschen untereinander, des Menschen zur Umwelt – das alles ist ebenso bezeichnend für ihn, den Bewohner meines Wohnplatzes.
Wird es sich im Leben bewahrheiten, dieses Werk eines zeitgenössischen Nenzen? Sie können sich später darüber streiten, denn jetzt beginne ich. Geschichten von meinem Wohnplatz.