Marianna Butenschön
Freitag 03.10.2003
Jelzin, Putin und die Präsidentenkuh
Vom einsamen Kampf des Rentierzüchters Jurij Wella gegen den Ölkonzern LUKoil
Eine morgendliche Fahrt mit dem PKW von Nischnjewartowsk am Ob in Richtung Norden. Im subarktischen Teil Westsibiriens ist es Ende September tagsüber nur noch dunstig und trübe, bald werden die schweren Schneewinde einsetzen, viele Wege nicht mehr begehbar, viele Straßen nicht mehr befahrbar sein. Doch diese Trasse führt in die Zentren der sibirischen Gasförderung jenseits des Polarkreises. Deshalb wird sie immer freigehalten.
Die Wasserlachen längs der Route glänzen ölig – noch bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein verlief in dieser Gegend der “Große Rentierweg” der Nenzen, der von der Halbinsel Jamal nach Surgut führte.
Als junger Mann hat Jurij Wella, Rentierzüchter und Schriftsteller aus dem Volk der Nenzen, der 1948 in der Siedlung Warjógan am Fluß Agan geboren wurde, hier Zobel gejagt. Heute liefert der Autonome Kreis der Chanten und Mansen – eine Art sibirisches Kuwait – mehr als die Hälfte der russischen Ölfördermenge. Der “Große Rentierweg” ist nicht mehr zu erkennen, und die Rentierherden sind verschwunden.
Wir sind unterwegs zum Wohnplatz der Wellas an der Tjuitjacha, 120 Kilometer nordöstlich von Kogalym, der “Hauptstadt” der Ölgesellschaft LUKoil in Westsibirien. Die letzten 20 Kilometer legen wir mit einem alten Buran zurück, einem Schneemobil, an dem ein hölzerner Rentierschlitten befestigt ist. Darauf hat Jurij, ein drahtiger kleiner Mann mit listigen, schräg gestellten Augen, die Einkäufe aus Nischnjewartowsk geladen: Tee, Kaffee, Reis, Öl, Butter, Eier, Äpfel, Zwiebeln, Karotten und ein paar Süßigkeiten für die Enkel.
Der Wohnplatz liegt an einem flachen See. Drei niedrige Blockhütten, ein Schulhaus, ein Unterstand für den Kleinbus, der nur im Sommer gefahren wird, ein Badehaus, ein Schuppen für den Stromgenerator und zwei Pfahlbauten für Lebensmittel und Kleidung bilden einen kleinen Hof, an den sich ein Rentiergehege anschließt. Die Wellas leben in der Hütte daneben: Jurij und seine Frau Jelena, die aus dem Volk der Chanten stammt, die Tochter Lada Jussi und sechs Enkel. Neun Personen in einem Raum. Auf 30 Quadratmetern wird gekocht, gegessen, geschlafen, gewaschen, ausgeruht und manchmal, wenn das Benzin für den Generator reicht, auch ferngesehen. Unverputzte, mit Moos verstopfte Balkenwände, auf den Regalen Kleidungsstücke und Bücher, der Herd in der Ecke wird mit Holz geheizt. Am Fenster baumelt ein Mobiltelefon.
Jurij ist gleich nach der Ankunft wieder losgefahren, um nach seinen Rentieren zu sehen. Als er zurückkommt, strahlt er, weil die kleine Herde wieder ein bisschen größer geworden ist. Nun trägt er die Namen der Kühe, die gekalbt haben, in ein großes Heft ein. Das wichtigste Tier ist und bleibt die “Präsidentskaja”, eine Renkuh, die Jurij schon vor Jahren dem Präsidenten Russlands geschenkt hat. Der Schenkungsakt wurde an einem heiligen Ort in Anwesenheit vieler Menschen vollzogen. “Nach unserem Brauch kann man durch ein Rentier das Schicksal eines Menschen bestimmen. Dann hängt sein Schicksal vom Schicksal des Rentiers ab, und das Schicksal des Rentiers vom Schicksal des Menschen. Wenn ein Kalb krank wird, dann hat sein Herr eine Sünde begangen. Wenn das Kalb sich aber normal entwickelt, dann ist auch der Herr ein guter Herr – einer, der Glück hat und richtig handelt.”
War Boris Jelzin, dem die Nenzen das Ren seinerzeit übereigneten, ein guter Herr? Als bekannt wurde, dass er erkrankt war, brachten sie den Göttern das weiße Kalb der “Präsidentskaja” zum Opfer. “Nach einem Monat oder zwei kam im Fernsehen die Meldung, es gehe ihm besser. Natürlich war das Zufall, aber unser ganzes Leben besteht aus solchen Zufällen.”
Dann bekam die Präsidentenkuh noch zwei Kälber, die im September 1999 spurlos verschwanden. Jurij fand weder Kadaver noch Spuren. Also waren die Tiere von Ölarbeitern erlegt oder weggeschafft worden. Ein böses Omen. Zwei Wochen später begann der zweite Tschetschenien-Krieg. Am 8. Mai 2002 hat die “Präsidentskaja” wieder gekalbt. Abends fand Jurij die Überreste des Kälbchens in der Nähe des alten Sommerlagers – Hunde von der Ölbohrstelle hatten es gefressen. Wieder ein schlechtes Zeichen. Jurij hat Präsident Wladimir Putin, dem das Ren jetzt gehört, umgehend ein Protest-Telegramm geschickt, weil es doch verboten ist, auf den Ölbohrstellen Hunde zu halten. Sie sind eine Plage in der Tundra. Aber weiß Putin davon? Weiß er, dass er ein Ren besitzt?
Jurij redet nicht viel. Auch seine Gedichte und seine Prosatexte sind kurz. “Ich schreibe wenig”, sagt er, “manchmal nur drei Zeilen im Jahr.” Zeilen wie diese:
Am frühen Morgen
hüpft ein Specht über den Hof.
Na und?
Es hat lange gedauert, bis Jurij Wella seinen Weg fand. Er war Lagerist, Kassierer, Holzfäller, Ofensetzer, Erzieher, Jäger. Erst in den achtziger Jahren holte er das Abitur nach und begann ein Fernstudium am renommierten Gorki-Literaturinstitut in Moskau. Nun erst kamen ihm Zweifel am System, die schnell stärker wurden, bis er erkannte, dass die Sowjetmacht seinem Volk nicht die lichte Zukunft gebracht hatte. Seine Nachrichten vom Wohnplatz erschienen noch in der Sowjetzeit als Buch. Anfang der neunziger Jahre ging er mit der Familie zurück in die Tundra, damit die Enkel die Lebensweise der Vorfahren wieder erlernen, und so kam es, dass Rentiere für ihn wichtiger wurden als das Schreiben…
Heute gibt es in der Tundra kein sauberes Trinkwasser mehr. Die Watte, durch die Lada Jussi, die Tochter, abgekochtes Schneewasser filtert, ist schwarz. “Die Ölarbeiter bohren sich Brunnen und trinken Grundwasser”, sagt Jurij. “Diese Möglichkeit haben wir nicht. Wir nehmen Wasser von der Erdoberfläche. Was sollen wir sonst tun?” Jurijs Großeltern, aber auch Nachbarn und Freunde sind an Erkrankungen der Harnwege gestorben. “Uns wird wohl dieselbe Krankheit treffen.”
Es ist spät geworden auf dem Wohnplatz, doch der alte Buran muss noch repariert werden. Für einen neuen fehlt das Geld. Wohl ist Jurij wissenschaftlicher Mitarbeiter des Forschungsinstituts der Ob-Ugrischen Völker in Chanty-Mansiisk und erhält ein Gehalt von monatlich 7.000 Rubel (205 Euro). Das ist viel im europäischen Russland, aber wenig in Sibirien. Ein Großeinkauf in Nischnjewartowsk, und die Hälfte des Gehalts ist weg. Wellas Bücher erscheinen in so geringer Auflage, dass sie nichts einbringen. An den Kauf eines neuen Schneemobils – das billigste kostet 70.000 Rubel – ist nicht zu denken. “Für die Ölgesellschaften ist es von Vorteil, dass ein Buran so teuer ist. Sie bieten uns ein Fahrzeug an, damit wir als Gegenleistung unterschreiben, dass sie auf unserem Grund bohren dürfen. Wer unterschreibt, kann seine Rentiere dann nirgends mehr weiden.”
Das verfassungsmäßige Recht der indigenen Völker auf Nutzung der Tundra, in der sie seit Jahrtausenden ihre Herden weiden, interessiert die Ölgesellschaften nicht, und die Ureinwohner können nicht beweisen, dass sie Eigentümer der Weidegründe sind. Die Firmen besitzen Lizenzen, die sie zur Förderung berechtigen. Also kann niemand sie aufhalten, auch Jurij Wella nicht. Aber er will zumindest erreichen, dass sie die Rechte der Ureinwohner respektieren.
Doch Russland lebt vom Export seiner Rohstoffe, und die Tragödie der indigenen Völker kümmert die zugereisten Ölarbeiter wenig. “Ihre bloße Anwesenheit schadet unserem Leben, unserer Psychologie, der Erziehung unserer Kinder. Sie bringen eine Lebenskultur hierher, die uns fremd ist. Und wenn ich darüber rede und schreibe, sagen der Gouverneur und seine Leute, dass ich unrecht habe und falsche Informationen verbreite.”
Längst findet Wellas Kampf gegen LUKoil unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Unabhängige Medien gibt es in Chanty-Mansiisk nicht. Der Pressedienst des Gouverneurs hat die Journalisten gebeten, nicht mit Wella zu “arbeiten”, wie es in Russland heißt. Daran hält man sich. Über seine Gedichte, über die Kunst, ja, darüber würden sie mit ihm reden, doch über seinen Konflikt mit dem Konzern – darüber nicht. Die Umweltschützer haben sich ebenfalls arrangiert. In Westsibirien kämpft man nicht gegen LUKoil.
Nur Jurij Wella will keine Kompromisse mehr eingehen. Unter seiner Hütte ist Öl. Folglich wird LUKoil eines Tages ganz in der Nähe mit dem Bohren anfangen. Dann will er seine Rentiere nach Chanty-Mansiisk treiben und sie vor dem Amtssitz des Gouverneurs schlachten. “Als erstes Tier schlachte ich das Präsidentenren. Wenn der Präsident nicht in der Lage ist, Bedingungen für den Erhalt meiner Herde und den Erhalt seines eigenen Tieres zu schaffen, muss er als erster leiden.”
Auf seiner letzten Sibirien-Reise hat sich Wladimir Putin besonders für die Öl- und Gasförderung interessiert. Auf Wellas Telegramm vom Mai 2002 reagierte er nicht. “Schreib deinem Kanzler Schröder einen Brief”, bittet Jurij zum Abschied, “er soll seinen Freund in Moskau fragen: Wie geht es deinem Ren?” Damit Wladimir Putin vielleicht auf diesem Weg erfährt, dass er ein Ren besitzt, um das er sich kümmern muss.